Von der Idee zum fertigen Fahrzeug
Die Geschichte des heutigen TW Nr. 9 beginnt mit der kleinen unscheinbaren Lore Nr. 311, die noch bis zum Jahre 2005 offiziell in Betrieb stand und für Transporte verwendet wurde.
Die Lore, tatsächlich ein Potsdamer Originalrelikt, stammte aus den ersten Jahren des elektrischen Straßenbahnbetriebes und war selbst einst ein „richtiger“ Straßenbahnwagen. Nach dem Kriege ihres Wagenkastens beraubt, blieb sie als letzte von ehemals zahlreichen solcher Güterwagen übrig.
Sie sollte die Grundlage werden, für den schönsten aller Potsdamer Straßenbahnwagen – Nr.9.
Ein erster Schritt zum Wiederaufbau war die Anerkennung des Fahrzeugs als Denkmal. Dies geschah am 14. Februar 2006, als das Fahrzeug, zusammen mit den anderen historischen Straßenbahnwagen, vom brandenburgischen Landeskonservator in die Landesdenkmalliste eingetragen wurde. Nun konnte der lange Weg zu Nr. 9 beginnen!
Die nachfolgenden Zeilen machen deutlich, mit wieviel Geduld und über welch verworrene Wege der Wagen Gestalt annahm.
Im Mai 2006 wurde beim Hannoverschen Straßenbahn-Museum in Sehnde-Wehmingen ein historisches Fahrgestell aus dem Jahre 1926 abgeholt, welches einst einem Straßenbahnwagen in Kassel gehört hatte. Es diente als Spender für Radsätze, Fahrmotore und die Bremsanlage. Die ersten Arbeiten begannen im Januar 2007.
Dank maßgeblicher Unterstützung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz konnte eine Leipziger Fachfirma beauftragt werden, den Wiederaufbau des vollständigen Fahrgestells einschließlich der Antriebseinheiten vorzunehmen.
In Graz konnten zudem zwei Fahrschalter erworben werden, die in Wien aufgearbeitet werden konnten. Die Blattfedern des Fahrgestells wurden von einer Firma in Staßfurt nachgebaut.
Pünktlich zum Jubiläum „100 Jahre Elektrische in Potsdam“ im September 2007, konnte das komplett überholte Fahrgestell der Öffentlichkeit in Potsdam präsentiert werden.
Im Juni 2008 begutachteten die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und die Untere Denkmalschutzbehörde der Landeshauptstadt Potsdam den Stand der Arbeiten und überzeugten sich von der fachlichen Qualität der Ausführung. Damit war der Teil der Arbeit erfolgreich abgeschlossen, der sich mit der Restaurierung der unter Denkmalschutz stehenden Substanz des historischen Wagens befasst hatte.
Nun konnte die Komplettierung des Fahrzeuges beginnen.
Dazu wurde zunächst der Bodenrahmen des auf das Fahrgestell aufzusetzenden Wagenkastens erneuert. Der fertig genietete Bodenrahmen konnte am 14. Oktober 2009 abgenommen werden und machte sich zwei Monate später auf den Weg ins österreichische Mariazell, wo das hölzerne Wagenkastengerippe nach Originalzeichnungen aufgebaut wurde.
Die dortige Firma ist Partner des örtlichen Straßenbahnmuseum und hat daher große Erfahrung mit dem Aufbau von historischen Straßenbahnwagen. Die Arbeiten am Wagenkastengerippe dauerten bis in den Sommer 2010.
Im Anschluss machte sich der Wagen erneut auf Reisen, diesmal ins rumänische Iasi, wo die Verblechung des Kastens, der Innenausbau und die Lackierung des Fahrzeuges vorgenommen wurden. Dazu erfolgte im Vorfeld mit der Denkmalbehörde eine Abstimmung zu den Farbtönen der Außen- und Innenlackierung sowie der Deckenbemalung im Wageninnern. Basis hierfür waren historische Fotografien des Fahrzeuges außen und innen im Originalzustand.
Auch in Brandenburg war man mit Arbeiten für das Fahrzeug zugange: in Werder an der Havel fertigte eine Schlosserei auf Grundlage vorhandener Originalzeichnungen zwei Umsetzgitter für die Plattformen des Wagens an. Da der Wagen keine Türen besitzt, sondern eine offene Plattform, verhindern diese Gitter das Herausfallen während der Fahrt.
Immer wieder erreichten den Verein während des Wiederaufbaus auch Originalteile von den alten Potsdamer Wagen. Straßenbahnfreunde hatten einige Teile vor der Verschrottung gerettet, die nun wieder eingebaut werden konnten. So freute sich der Verein über vier historischen Bahnheizkörper, einen Umschalthebel und verschiedene wunderbar verzierte Beschlagteile.
Der historische Lindner-Wagen konnte am 30. April 2011 in Iasi einer Vorabnahme unterzogen werden und wurde anschließend nach Potsdam zurück transportiert. Er stand am 30. Mai 2011 erstmals wieder auf Potsdamer Gleisen.
Die Straßenbahnwerkstatt der ViP übernahm die Arbeiten an der elektrischen Ausrüstung und am 4. August 2011 bewegte sich der Wagen erstmals aus eigener Kraft einige Meter in der Werkstatt der ViP und zwei Tage später auf dem Prüfgleis.
Am 12. August konnte der Wagen den Vereinsmitgliedern und der Presse vorgestellt werden.
Seinen ersten großen Auftritt hatte Nr. 9 am 17. September 2011: aus Anlass des Tages der offenen Tür des Verkehrsbetriebs Potsdam und der Übergabe der ersten Variobahn für Potsdam erlebte der historische Lindner-Wagen sein "zweites Rollout".
Mit an Bord waren Ehrengästen wie Brandenburgs Verkehrsminister Jörg Vogelsänger, Stadler-Geschäftsführer Michael Daum und Bürgermeister Burkhard Exner. Kommentiert von rbb-Moderatorin Ulrike Finck rollte der Wagen aus der Werkstatthalle der ViP.
Minister Vogelsänger dankte dem Verein ausdrücklich für das jahrelange Engagement und das erzielte Ergebnis.
Ganze drei Stunden drehte der Lindner-Wagen mit Fahrgästen mehrere Runden auf dem Betriebshof. So wurde auch schon das Fahrgefühl alter Zeiten erlebbar und ebenso der Kontrast zu den heutigen modernen Fahrzeugen.
Am 6. Mai 2013 kann erlebte der historische Motorwagen Nr. 9 seine zweite Jungfernfahrt. Mit prominenter Besetzung konnte der Wagen erstmals durch Potsdam rollen. Seither hat der Wagen Dutzende Sonderfahrten durch Potsdam absolviert und für erstaunte Gesichter bei Passanten und Fahrgästen gesorgt.
Von innen und außen besticht der Wagen durch seine detailreiche Gestaltung und macht deutlich, dass er einer Residenzstadt würdig ist.
Und doch fehlte bis September 2016 ein Detail am Wagen, welches das authentische Ambiente erst wirklich abrundete.
Bei ihrer Anlieferung durch die Firma Lindner im Jahre 1907 hatten die ersten elektrischen Straßenbahnwagen zwar Holzbänke wie ihre Kollegen in anderen Städten auch, diese blieben den Fahrgästen jedoch verborgen. In Potsdam saß man nämlich auf gewebten Überzügen, die den Aufenthalt in der Bahn noch angenehmer machen sollten.
Die Überzüge bestachen durch Bordüren mit Pflanzenmotiv und vor allem das eingewebte Potsdamer Stadtwappen war ein Hingucker. Selbstverständlich gehörten zu einer vollständigen Rekonstruktion des Fahrzeuges auch diese Überhänge.
Mit der Firma Cammann in Hohenstein – Ernstthal fand der Verein Historische Straßenbahn Potsdam e.V. einen Partner, der sich auf die Herstellung von Stoffen nach historischem Vorbild spezialisiert hat.
Die sächsischen Spezialisten verständigten sich mit Historikern und Denkmalschützern über Optik und Haptik der Stoffe, experimentierten mit verschiedenen Materialien. Insgesamt wurden zwölf Einzelteile gefertigt, die auf den Sitzen befestigt werden können.
Wie der Wiederaufbau des Lindner-Wagens selbst, ist auch die Wiederherstellung der Sitzbezüge ein Werk mehrerer Partner. Die anspruchsvolle Konfektionierung der Gewebeteile, die Kaschierungen, die Borteneinfassungen und die Herstellung der zum Fixieren der Überwürfe dienenden Lederriemen oblag dem Team des Raumausstatters Thomas Weichelt in Dresden. Die Zulieferung der passenden Borten und Schnüre übernahm die Jende Posamenten Manufaktur Forst GmbH.
Sie war die Grundlage für den Wiederaufbau: die Lore Nr. 311.
Foto: R. Leichsenring
Das aufgearbeitete Fahrgestell in Leipzig.
Foto: HSP e.V.
Das fertige Fahrgestell bei der Präsentation im Jahre 2007.
Foto: R. Leichsenring
Wiederaufbau des Wagenkastens in Mariazell.
Foto: HSP e.V.
Die Probezeichnung für die Außenlackierung.
Foto: HSP e.V.
Der weit fortgeschrittene Wagenkasten in Iasi (Rumänien) ...
Foto: HSP e.V.
... und die bereits fertigen Fahrzielanzeiger.
Foto: HSP e.V.
Detail der wieder entstandenen Innendekoration.
Foto: HSP e.V.
30. Mai 2011 - Ankunft in Potsdam.
Foto: HSP e.V.
Prominent besetzte Jungfernfahrt: Ministerpräsident a.D. M. Stolpe, Oberbürgermeister J. Jakobs und Bürgermeister B. Exner am Fahrschalter des wieder aufgebauten Lindner-Motorwagens.
Foto: HSP e.V.
Die wertvollen Sitzbezüge mit Potsdamer Stadtwappen.
Foto: R. Leichsenring